Im Alter von vierzehn Jahren durfte ich zum ersten Mal nach Frankreich fahren, um meine Französischkenntnisse aufzubessern. Nach einer schier endlosen Bahnfahrt erreichte ich Genf, von wo mich mein Onkel abholte und nach Ferney-Voltaire, einem kleinen französischen Ort an der Schweizer Grenze, brachte, wo er mit seiner Frau Jacqueline wohnte. Tagsüber waren die beiden zumeist beschäftigt, da sie bei internationalen Organisationen in Genf arbeiteten. So hatte ich Zeit, mich inzwischen in meiner neuen Umgebung in Ruhe umzusehen und mir Skizzen und Notizen zu machen.
An den Wänden ihrer Wohnung hingen die verschiedensten Zeichnungen und Malereien von einer Art, die ich zuvor noch nicht gesehen hatte, und von denen ich mich gerne inspirieren ließ. Darunter befand sich auch eine chinesische Tuschezeichnung, die ein Pferd mit einem im Galopp wehendem Schweif darstellte. Besonders gefiel mir die rote chinesische Signatur in der rechten unteren Ecke. Ich bemühte mich, es abzumalen, was mir leidlich gelang. Auch machte ich mir Skizzen nach anderen Bildern.
Besonders spannend wurde es für mich aber, als Lucette, Jacquelines Mutter, eines Tages auftauchte. Sie hatte von meinem Kunstinteresse gehört und führte mich in das Museum für Moderne Kunst in Genf. Was ich dort zu sehen bekam, überstieg alles bisher Dagewesene. Ich entdeckte die Meister der Moderne, Picasso, Matisse, Monet etc. Besonders fasziniert war ich aber von Chagall, der seinen Geigenspieler einfach auf das Dach eines russischen Bauernhauses stellte. Wie konnte man nur so mutig sein? Von da ab beschloss ich, mich nicht mehr sklavisch an die Natur zu halten, sondern meiner Fantasie freien Lauf zu lassen, und Farben wie die „Fauves“ nach Stimmungen zu verwenden, Flächen mutig zu verschieben und neu zusammenzusetzen wie die Kubisten, Linien zu verzerren, und überhaupt die neue Freiheit in der Kunst, von der ich seit damals eine Ahnung bekommen hatte, auszuleben.
Zum Abschied schenkte mir Jacqueline eine Schachtel Ölkreiden der Marke Caran d’ache. Damit war die Richtung vorgegeben, in der ich mich während meiner gesamten Schulzeit und darüber hinaus weiterbewegen sollte. Ich gewann sogar einmal den ersten Preis mit einer Ölkreidezeichnung bei einem Wettbewerb in Wien. Als ich allerdings das Ansinnen vorbrachte, nach der Matura Kunst studieren zu wollen, wurde mir dies von meinen Eltern strikt verboten indem sie mir das Schauergespenst „Brotlose Kunst“ vor Augen stellten.
Die Ölkreiden sind inzwischen so gut wie aufgebraucht, aber die Schachtel habe ich wie einen Schatz gehütet, war sie mir doch dreißig Jahre hindurch ein Zeichen der Hoffnung, eines Tages wieder künstlerisch tätig sein zu können. Und tatsächlich ist es im Alter, nach Beendigung meiner beruflichen Tätigkeit und nachdem alle Kinder selbständig geworden waren, erst so richtig los gegangen. Aber das ist eine andere Geschichte…